In der Zwischenzeit hat sich in Indien schon vieles verändert, aber etwas ist geblieben: Die theoretische Bildung ist der Königsweg; wer es nicht schafft, durch die harten Prüfungen an die Universität zu gelangen, ist abgeschrieben. Praktische Arbeit gilt als Makel. Aus der Geschichte lässt sich das nur zum Teil begründen. «Gurukul» steht für ein Bildungssystem im alten Indien, bei welchem Schüler in der Nähe oder im selben Haus wie der Meister (Guru) lebten, wo sie in praktischen und theoretischen Belangen unterrichtet wurden und ihn in seinen täglichen Arbeiten unterstützten. Auf diesem Weg lernten die Schüler neben den handwerklichen Fähigkeiten auch Selbstdisziplin, Höflichkeit, Humanismus und Spiritualität. Die Verbindung einer Ethik mit der Berufsausübung war durch Zünfte auch im Mittelalter in Europa die Regel. In Indien war dies durch das Kastenwesen viel ausgeprägter. Bei beiden Kulturen war die Berufsausübung identitätsbildend und mit spezifischen Rechten und Pflichten verbunden.
Durch die Kolonialisierung der Engländer wurden solche Werte in Indien nebensächlich, wichtiger war eine effiziente Verwaltung und die Ausbeutung lokaler Ressourcen. Mit Erlangen der Unabhängigkeit wurde eine grosse Chance verpasst, eine Stelle im ausufernden Verwaltungssystem blieb das begehrteste Ziel, dicht gefolgt von einer Anstellung bei einem internationalen Multi. Unter diesen Voraussetzungen konnte Tradition nicht sich mit Innovation verbinden.
Als neue Herausforderung wird sich auch in Indien die rasche Verbreitung der künstlichen Intelligenz erweisen. Diese Technologie ist in all den Bereichen, in denen es darum geht, mit theoretischer Bildung, Repetition und Neukombination gute Noten zu schreiben, dem Menschen überlegen. Die Folge wird eine soziale und finanzielle Aufwertung praktischer Erfahrung sein.